4. Januar 2017

Das gelbe Dossier von M. Karagatsis

DAS GELBE DOSSIER von M. Karagatsis war meine Lektüre während der Feiertage und dem Jahreswechsel

Über 600 Seiten Lesevergnügen liegen hinter mir.

Es ist ein vielschichtiger, raffinierter, komplexer Gesellschaftsroman, den ich gerade zugeklappt habe. Damit wirkt das bereits 1956 in Griechenland erschienene und erst letztes Jahr in deutscher Übersetzung veröffentlichte Werk literarisch kunstvoll und modern. Sein Aufbau ist verschachtelt, aber so klar konstruiert, dass man als Leser seine Raffinesse genießt, den Faden aber nie verliert.

Drei Literaten im Mittelpunkt

Es geht in erster Linie um drei Schriftsteller: Um den Autor, der sich selbst zu einer der Romanfiguren macht, um den "Satan" Manos Tassakos und den "Erzengel" Kostis Roussis.

Ein Krimi, eine gelebte Philosophie und ein teufliches Experiment

Ausgangspunkt ist der als Selbstmord inszenierte Tod des Manos Tassakos im Athen des Jahres 1938. 16 Jahre danach bekommt der Autor Karagatsis ein dickes Dossier mit gelbem Deckel und der Anmerkung, er solle aus dem darin gesammelten Material den Roman machen, den Tassakos eigentlich selbst hätte schreiben wollen, wäre ihm nicht der Tod zuvorgekommen.

Das satanische an Tassakos ist, dass er alle übrigen Romanfiguren - die mit ihm und Roussis eng durch ein Geflecht von Abhängigkeiten, Emotionen und Leidenschaften verbunden sind, weniger als menschliche Wesen, denn als Material wahrnimmt - Experimentiermaterial für sein Romanprojekt. Um größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen, gilt es an deren Lebensbedingungen zu drehen und zu schrauben und sie gegeneinander auszuspielen, um die These dass unter den Leidenschaften der menschlichen Natur die Besitzgier an oberster Stelle steht experimentell zu untermauern oder zu widerlegen und daraus schließlich einen meisterlichen experimentellen Roman zu zimmern. Da er nicht nur Schriftsteller ist, sondern Recht studiert hat und als Rechtsanwalt und Anlageberater für seine "Versuchskaninchen" fungiert, ist ihm das ein Leichtes.

Tassakos zum Satan und Roussis zum Erzengel ernannt hat des einen Geliebte und anderen spätere Ehefrau Maria Petropoulou, ein mitgiftloses Opfer der in jenen Jahren herrschenden patriarchalischen Gesellschaft, das sich allerdings sehr wohl zu wehren und seinen eigenen Weg zu gehen weiß. Vor der Zeit mit Maria hatte vor allem Roussis auch ganz andere Züge gezeigt. In einem anderen Erzählstrang fließt dessen von Schicksalsschlägen geprägte Vorgeschichte ein, die schließlich seine rätselhafte Handlungsweise und Morphiumabhängigkeit erklärt. Tassakos hatte man zuvor als jemanden erlebt, der konsequent und rücksichtslos seine Philosophie lebt, eine von Nietzsche geprägte Philosophie, mit der er eine Einstellung untermauert, der jedes Mittel recht ist, wenn der Zweck es erfordert und die notfalls über Leichen geht.

Ein enger Kreis an Romanfiguren

Um diese zentralen Figuren gruppieren sich Marias Vater sowie der Neffe, der Sohn und der Arzt von Roussis. Eine Haushälterin führt das Zepter im Hause Roussis, bis man es ihr entreißt. Ein langweilige Reden schwingender Professor sowie der Roussis' Verleger gehören zu den wenigen Gästen, die Roussis einmal die Woche abends besuchen. Eine weitere Geliebte von Tassakos tritt auf. Damit schließt sich der Kreis auch schon fast. Hauspersonal, Notar und Geschäftspartner spielen eine marginale Rolle, wobei als interessant zu vermerken ist, dass ein Geschäftspartner von Roussis' Sohn den aus anderen Werken des Autors bekannten Namen Junkermann trägt. Ansonsten bleibt der Kreis der agierenden und vor allem viel debattierenden Figuren eng.

Industrie statt Bourgeoisie

"Es geht um die Bewohner der 'Burg von Athen', wie man damals den Stadtteil Kolonaki am Fuße des Lykavittos-Hügels nannte, in dem die reichen Griechen wohnten", verspricht der griechische Schriftsteller Petros Markaris im Vorwort. Meine daraus hergeleitete Hoffnung, mehr über dieses Viertel und über Leben und Gepflogenheiten der reichen Athener Bourgeoisie im Handlungszeitraum der 1920er­ und 1930er­Jahre zu erfahren, blieb allerdings enttäuscht. Über weite Strecken spielt die Handlung in geschlossenen Räumen, großenteils im luxuriösen, mit immensen Kunstschätzen ausgestatteten Haus von Roussis, in dem er mit seinem Neffen lebt. Roussis verlässt es zunächst gar nicht. Besuche finden nur an einem Abend in der Woche statt, allerdings stets von den Personen des ewig gleichen engen Kreises. Erst gegen Ende, nachdem er die viel jüngere Maria geheiratet und mit deren Hilfe vom Morphium losgekommen ist, geht er mir ihr nach draußen und schnuppert hinein in eine ganz andere Welt als die des Athener Nobelviertels Kolonaki - die Welt der aufkeimenden Industrialisierung mit ihren rauchenden Schloten und lärmenden Maschinen. Dieser Aspekt Griechenlands wird plastisch beschrieben. Er fasziniert Roussis. "Die Pressen vergleicht er mit den Fäusten weiser Giganten, die dem schmiegsamen Stahl in der Gussform Gestalt verleihen.Von den Lampen in der Trockenhalle erzählt er wie von dreihundert kleinen Sonnen, symmetrisch angeordneten Wärmequellen."

Von Anfang bis Ende ein spannendes, lohnendes Leseerlebnis

Letztendlich war es mir also nicht in dem erhofften Maße gelungen, durch das Buch in das Milieu der Athener Bourgeoisie des Handlungszeitraums einzutauchen. Dafür brachte mir das "Das gelbe Dossier" andere, unerwartete Lesefreuden. Der Spannungsbogen riss nie ab, während ich den oft unerwarteten Entwicklungen und Verwicklungen der Protagonisten folgte, die so detailreich, einfühlsam und plastisch beschrieben sind, dass ich sie gleichsam vor Augen hatte, als ich von ihrem Leben und Streben, ihren Leidenschaften, Machenschaften, Hoffnungen und Enttäuschungen las und ihren geistreichen Debatten über Philosophie, Moral, Religion, Recht, die Natur des Menschen, Kunst, Literatur, Staat und Gesellschaft beiwohnte.

Nun bin ich gespannt auf das nächste, ebenfalls 2016 auf Deutsch erschienene Buch des Autors, das auch schon neben meinem Lesesessel liegt: Oberst Ljapkin

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