4. Januar 2015

Durch die Krise kommt keiner allein - Christian Rathner

Angenehme und erhellende Lektüre

Ganz so ausgiebig, wie ich es mir erhofft hatte, kam ich an den Feiertagen nun doch nicht zum Schmökern. Immerhin habe ich eines der drei bereitgelegten Bücher inzwischen  gelesen: Christian Rathners Durch die Krise kommt keiner allein - Was Griechenland Europa lehrt .

Dank der leicht verständlichen Schreibweise, dem konstruktiven, gar nicht schwarzmalerischen Ansatz, dem Einfließen persönlichen Erlebens während des Schreibprozesses und den vielen Seitenblicken auf Kulturelles und Geschichtliches eine angenehme Lektüre. Dank der klugen Beobachtungen und Analysen zudem eine erhellende, die weit mehr als tägliche Medienberichte Zusammenhänge verstehen lässt und über reine Fakten hinaus Perspektiven aufzeigt, aber auch Schicksale und Stimmungen spürbar macht. Parallelen zu ähnlichem Werk - Viel O-Ton Betroffener, viele Berichte über Bewältigungsversuche an der Basis in sozialen Netzwerken und Kooperativen

Durch die Krise kommt keiner allein - Was Griechenland Europa lehrt ist das zweite Buch zur gleichen Krisenthematik, das ich ich in den letzten Wochen las. Das erste war Landolf Scherzers "Stürzt die Götter vom Olymp - Das andere Griechenland".
Beide Autoren - Christian Rathner ebenso wie Landolf Scherzer - sind weder Wirtschafts- noch Griechenlandexperten, sprechen noch nicht einmal Griechisch. Für beide ist es das Schicksal der Menschen, denen sie bei ersten kurzen Besuchen des Krisenlandes begegnet sind, das sie berührt und für beide sind es Schlagzeilen und Äußerungen in den Medien und auf der Straße über die "faulen Griechen", die sie als so dumm und ungerecht empfinden, dass sie unbedingt ordentlich in Griechenland recherchieren und ein Buch schreiben wollen, um Vorurteile sie dieses zu hinterfragen und ihnen etwas entgegen zu setzen.

Dabei ist der Ansatz der beiden zunächst recht ähnlich. Beide haben viele Betroffene zu Wort kommen lassen und damit fühlbar gemacht, was die Sparmaßnahmen, Abgabenerhöhungen und trüben Perspektiven den einzelnen Menschen auferlegen. Beide haben auch aufgezeigt, was Solidarität in schweren Zeiten wie diesen vermag. Beide haben Hilfsorganisationen besucht, wie soziale Netzwerke und Krankenstationen, Suppenküchen und Direktvermarktungsinitiativen, die Teile der Produkte kostenlos an Hilfsbedürftige ausgeben. Beide waren sie auch bei der Sozialkooperative Vio.me in Thessaloniki. Ein Teil des Wegs zum Durchkommen durch die Krise und ein Teil der Lehre für Europa mögen bei dieser Hilfsbereitschaft und gegenseitigen Unterstürzung der Griechen füreinander zu finden sein. "Mit den sozialen Netzwerken ... hat in Griechenland eine Veränderung begonnen, deren Tragweite noch nicht absehbar ist. Aus dem einstigen 'Mutterland der Demokratie' kommen auch heute wegweisende Ideen" sagt Rathner am Ende seines Kapitels "Solidarität für alle. Und warum Charity etwas anderes ist."

 Auch Fachleute haben das Wort bei der Suche nach Auswegen und Lösungen

Anders als Scherzer, der sich in seinem Buch "Stürzt die Götter vom Olymp" auf Moment- und Bestandsaufnahmen beschränkt,  sucht Rathner aber auch auf politischer und ökonomischer Ebene Ursachen für die Krise und vor allem Auswege daraus und zu ziehende Lehren. Er spricht nicht nur Betroffene, sondern auch Wirtschaftsexperten an, wie den Ökonomen Yanis Varoufakis. Dieser hat schon einen "moderaten Vorschlag" in der Schublade und auf seinem Blog, mit dem er einen Weg aus der Krise aufzeigt, die seiner Meinung nach keine griechische Krise ist, sondern eine Krise Europas, genauer: eine Krise der Eurozone. Um ein Ende der "tödlichen Umarmung bankrotter Staaten durch bankrotte Banken" geht es darin im ersten Schritt. Auch die viel diskutierten "Euro-Bonds" spielen darin eine Role und schließlich eine Investitionsoffensive der Europäischen Investitionsbank und des Europäischen Investitionsfons - allerdings ohne die derzeit geltende 50-Prozent-Beteiligung der hoch verschuldeten Staaten. Ob der gut durchdachte Vorschlag, den der dem Autor Rathner so sympathische Mann vor ihm ausbreitet, funktionieren kann? Die Frage lässt Rathner nicht los. Die Politik konnte Varoufakis bislang nicht überzeugen oder jedenfalls nicht zum entsprechenden Handeln bewegen. Viele europäische Politiker geben ihm Recht, sagt er - allerdings erst nach einem Glas Rotwein. Und keiner von ihnen wage es, die Sache öffentlich anzusprechen. Es sei denn, ein Vorreiter würde den ersten Schritt wagen. In diesem Fall wären nach Einschätzung des Ökonomen viele bereit mitzuziehen. Aber die Politik sei ein träges System. Es bedürfe einigen Mutes, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Dem Autor Rathner  als Laien erscheint Varoufakis Argumentation glaubwürdig und es lässt ihn die Frage nicht los: "Wenn es auch nur die geringste Chance gäbe, den Menschen Maßnahmen von solcher Härte zu ersparen - warum tut man dann nicht alles, um sie zu nützen? Oder wenigstens die härtesten Auswirkungen abzufedern?". Mit den Worten "Europa ist gefragt. Europa steht in Frage." schließt sein Kapitel über das Gespräch mit Varoufakis.


Der griechische Patient und seine Ferndiagnosten

Eines meiner Lieblingskapitel in Rathners Krisenbericht ist das Kapitel 8, das der Frage "Wer ist verantwortlich?" nachgeht, der "gar nicht so einfachen Frage nach der Schuld".
Wie so oft in seinem Buch holt er hier erst einmal weit aus, um dem Phänomen der Griechenschelte auf den Grund zu gehen. Er beginnt mit einer Situation, die wohl jeder kennt, der schon einmal mit der ärztlichen Diagnose einer schweren Krankheit konfrontiert war. Plötzlich finden sich viele liebe Verwandte und Bekannte, die genauer als irgendein Arzt wissen, wie man sich das Leiden zugezogen hat. Entweder: Ganz klar - "Zu viel gearbeitet, ein Workaholic". Oder aber auch das Gegenteil: "Zu passiv". Oder vielleicht: "Zu emotional", oder vielleicht eher "zu verklemmt.", "zu wenig seinen Gefühlen freien Lauf gelassen". "Selbstentlastende Ferndiagnose" nennt Rathner dieses Phänomen, bei dem es gar nicht wirklich um den Kranken geht, sondern um die Ängste dessen, der da über ihn redet. Jeder hat in sich selbst eine tiefe Angst vor Krankheit. So spricht man sich selbst Mut zu, indem man vermeintliche Ursachen der Krankheit des anderen benennt, gegen die man selbst gefeit ist. Kann man dem Patienten selbst die Schuld zuschieben, dann hilft das sehr, eine beruhigende Distanz zu ihm und zu dem Thema Krankheit zu schaffen. Jemand hat sich in Afrika die Malaria geholt? Wer dort selbst nicht hinfährt, läuft auch nicht Gefahr, sie auch zu bekommen. Schwieriger wird es, wo die Ursache weniger klar ist. Gerade dort wird die entlastende Ferndiagnose wirksam. Indem man dem Kranken Eigenschuld gibt, wird das Entsetzen über die dunkle Diagnose gebannt. "Der ist ja selbst schuld. Mir kann so etwas nicht passieren". So lassen sich eigene Ängste unterdrücken. "Er raucht. Darum ist er jetzt krank. Ich nicht, also keine Gefahr." "Er arbeitet zu viel, wärhend bei mir alles im Lot ist. Darum wurde er krank. Kann mir nicht passieren."
Daraus schließt der Autor Rathner:
"Dem griechischen Patienten geht es nicht anders. Die gebetsmühlenartige Wiederholung des Befundes, dass "die Griechen" selbst schuld sind an ihrer Lage, zerstreut die Bedenken, man könnte Symptome desselben Syndroms ausbrüten. Über die Verhältnisse gelebt? Zu viele Schulden aufgehalst? Steuern hinterzogen. Bestechlich gewesen? Es ist entlastend, all das beim anderen, beim Patienten zu sehen und nicht bei sich selbst. Die selbstentlastende Ferndiagnose greift gern und tief in den Topf der Vorurteile. Die Griechen sind faul, wir fleißig. Sie sind korrupt, wir korrekt.".... Es herrscht "Hochkonjunktur für Vereinfacher." "Die Chance, am fremden Beispiel eigene Probleme zu erkennen, wird damit klein. Die Ferndiagnose bringt Menschen gegeneinander auf, die bei genauerem Hinsehen in einem Boot sitzen.

Musikalischer Schlussakkord

Den Schlussakkord zu Rathners Krisenbericht liefert wieder der griechische Musiker Mikis Theodorakis, dessen Musik auch bereits die Ouvertüre gebildet hat. Zu Beginn wie zu Ende des Buches stehen ein Konzertbesuch mit altbekannten griechischen Liedern, die allen vertraut sind - den mitsingenden und tobenden Applaus spendenden Griechen sowieso, doch immer mehr im Laufe seiner Griechenlandaufenthalte auch Christian Rathner - vertraut und Mut ebenso wie Trost spendend. "Wer solche Lieder hat und sie so zu feiern weiß, kann nicht untergehen" ist Rathners Schlussgedanke, bevor sich nach einem letzten Zitat einer Krisenbetroffenen die Buchdeckel schließen. In dem Moment wird mir bewusst, dass uns in meinem Land eine ähnlich kraftvolle, die Menschen sowohl in Erinnerung und Trauer als auch Freude und Zuversicht verbindende und kulturelle und nationale Identität stiftende Musik fehlt. Also wehe uns! Lieber beizeiten von Griechenland lernen, wie uns Rathner anweisen will, bevor auch wir schließlich ungewappnet harten Zeiten gegenüberstehen. Ob wir sie mit der gleichen Beherztheit und dem gleichen Gemeinschaftssinn wie die Griechen zu packen wüssten?

2 Kommentare:

  1. Guten Tag, wirklich sehr lesenswert der Bericht. Ich Interessiere mich deswegen dafür da wir geschäftlich ein paar Tage in das Land müssen und ich mir schon ein paar Gedanken mache wegen der aktuellen Politik vor Ort. Ist es momentan ein Problem oder ist alles in Ordnung ?

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  2. So wie ich die momentane Situation in Griechenland über Telefonate, Blogs, Twitter und andere Medien mitbekomme, herrscht zur Zeit eine sehr gute Stimmung. Man hat wieder Hoffnung geschöpft, seit eine neue Regierung an der Macht ist. Tausende Griechen bekunden ihr vor dem Parlament in Athen, aber auch auf anderen öffentlichen Plätzen des Landes ihre Sympathie, während das Ausland fast nur kritische, misstrauische, negative Medienberichte bringt. Eine interessante Diskrepanz. Leider befinde ich mich aber zur Zeit nicht selbst in Griechenland, so dass ich auch nur aus der Ferne und aus zweiter Hand berichten kann.

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