26. Februar 2017

Oberst Ljapkin von M. Karagatsis

Geschmack gefunden am Werk des griechischen Schriftstellers M. Karagatsis hatte ich bei der Lektüre seines 1957 auf Griechisch erschienenen und erst jetzt ins Deutsche übersetzten raffinierten, komplexen Kriminal- und Gesellschaftsromans Das gelbe Dossier. Nun habe ich auch seinen ersten, 1933 in Griechenland veröffentlichten Roman Oberst Ljapkin gelesen, der ebenfalls erst seit 2016 auf Deutsch vorliegt.

Griechische Provinz der Jahre nach dem ersten Weltkrieg

Ein fein gezeichnetes Bild des kleinstädtischen und dörflichen Lebens und der Landschaften der griechischen Region Thessalien

Während sein späterer Roman "Das Gelbe Dossier" in Athen spielt, führt uns Karagatsis mit seinem 1933 im Alter von 25 Jahren geschriebenen Jugendwerk über den Oberst Ljapkin in die griechische Provinz. An einer Landwirtschaftsschule beim Dorf Philippoupoli in der Nähe der Kleinstadt Larisa fand der vor den Bolschewiken geflohene russische Aristokrat und ehemalige Großgrundbesitzer Graf David Borissitsch Ljapkin eine Anstellung. Wie eine kleine, grünende und blühende Oase liegt die Schule mit ihren angrenzenden Stallungen, Gärten und Feldern inmitten weiter, baumloser Ebenen, die an die ukrainische Steppe erinnern. Herbst war es, als Ljapkin seine Stellung antrat. Morgens und abends steigen Nebel aus dem Fluss auf, doch tagsüber scheint eine "alles in klares, strenges Licht tauchende Herbstsonne". Es folgte ein harter Winter. "Tiefdunkel" und "gleichmäßig vom Pflug durchkämmt" liegen die weiten Flächen nun vor dem in der Ferne thronende und bis zu seinen Ausläufern mit Schnee bedeckten Olymp. "Die Schar der Krähen am bleiernen Himmel und auf den trockenen Zweigen wurde größer, und das Gekrächze herzzerreißender als sonst. Die Kälte und der Hunger ließen die Vögel noch schwärzer und trauriger aussehen." Das Frühjahr färbt den dunkelbraunen Boden grün. Bald wiegt sich darauf mit Beginn des Sommers "ein goldgrünes Meer von Ähren bis zum Horizont. Aber auf die Erntezeit folgte die Trostlosigkeit. Der Südwind versengte mit seinem heißen Atem jegliche Vegetation, und die Dohlen verschlingen die letzten Frösche in den morastigen Bewässerungsgräben."

Griechische Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft

Das in der Geschichte immer wieder aufscheinende Mitgefühl und herzliche Entgegenkommen gegenüber dem Neuankömmling zeugen von der gelebten Willkommenskultur der Griechen. 

Auf viel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft trifft Ljapkin in Griechenland, wo der Fünfzigjährige nach Verlust all seines Hab und Guts und seiner Stellung als ranghoher Soldat der Zarenarmee sein Leben neu beginnen musste. Der Direktor der Schule, an der er arbeitet, wird ihm zum Freund, der ein offenes Ohr und viel Verständnis für ihn hat und sich laufend dafür einsetzt, seine Situation zu verbessern. Die Frau des Direktors wird ihm später zur Ehestifterin und Trauzeugin, die tatkräftig versucht, sein Leben und das seiner bisherigen Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder in geordnete, eheliche Bahnen zu lenken. Gern würden die beiden ebenso wie Kollegen und die kleinstädtische Gesellschaft Ljapkin dazu bewegen, mehr aus sich herauszugehen und sich in ihre Gemeinschaft zu integrieren. Immer wieder machen sie entsprechende Vorstöße. Verständnisvoll begegnen sie seinem Anderssein, ja selbst seinem zunehmenden Alkoholismus. Damit beschreibt der Roman das typische, offene, gast- und fremdenfreundliche Verhalten der Griechen, das zu allen Zeiten zu spüren war und ist - Von der schweren Zeit, zu der der Roman spielt bis in unsere Tage, die auch wieder fürwahr nicht einfach sind für Griechenland. Das verleiht dem Roman Aktualität. Die 1920-er Jahre in Griechenland waren eine unruhige, von Militärputschs geprägte Zeit. Vor allem aber galt es damals beileibe nicht nur die vergleichsweise geringe Zahl an russischen Flüchtlingen zu integrieren, denen sich der Roman widmet, sondern weit mehr aus Kleinasien Vertriebene, so dass Ende der 1920er Jahre der Flüchtlingsanteil in Griechenland ein Viertel der Bevölkerung ausmachte. Angesichts heutiger Flüchtlingsströme und der erneuten großen Hilfsbereitschaft und Offenheit der ja auch selbst schwer unter Entbehrungen durch Krise und Sparpolitik leidenden Griechen in unseren Tagen eine schöne Kontinuität!

Osteuropäische Mentalität

Von Heimweh geplagte russische Seele trifft auf die griechische 

Sehr zögerlich war Ljapkin, wenn es darum ging, am gesellschaftlichen Leben der Schule und der Stadt Larissa teilzunehmen. Die Einladung der Frau Direktor zu einer Silvesterfeier konnte er indes nicht ausschlagen. Der Abend verlief sehr angenehm und Ljapkin verstand es, sich mit der Leichtigkeit des geborenen Adeligen in die weltmännische Umgebung einzufügen. Er trank viel, redete viel, war guter Laune, machte den Damen reizende Komplimente, tanzte mit ihnen und erntete viele Beachtung und Bewunderung. Und dann zu vorgerückter Stunde holte er seine Balalaika und begann zu spielen und zu singen. "Die Griechen mit ihrem klaren und rationalisierten Seelenleben, dem Gefühl für das Maß in Freude und Trauer, hörten diesen für sie neuartigen Harmonien mit beklommenem Herzen zu. Eine unbekannte Welt tauchte vor ihren Augen auf" .... "Die Stimme eines menschlichen Volkes, so menschlich, dass es ans Unmenschliche reicht, mit einem Seelenleben, das so überbordet, dass es bisweilen sogar das seelische Minimum neutralisiert; die Stimme eines Volkes, das seine Stärken und Schwächen kennt, eine Stimme, die ein Mal in den Herzen der schlauen Mittelmeerbewohner hinterließ." Ljapkins Mund zittert, seine Stimme droht zu versagen, "aber er singt seinen Schmerz hinaus mit der Beharrlichkeit einer unbesiegten Seele und eines besiegten Willens. Es ist sein eigenes Drama, das er besingt. Wann wird er seine Heimat wiedersehen? Wann? "

Fazit

Sehr unterschiedlich sind die beiden nun auf Deutsch vorliegenden Werke von Karagatsis, bei denen es sich einerseits um sein Debüt und andererseits sein drei Jahre vor seinem Tod erschienenes, vorletztes fertiggestelltes Werk handelt.

Das Frühwerk Oberst Ljapkin wird vor allem all jene ansprechen und befriedigen, die sich angesichts der wenigen ins Deutsche übertragenen griechischen Romane erhoffen, bei der Lektüre in griechische Orte, Epochen, Denk- und Empfindungsweisen einzutauchen. Dies gelingt mit diesem Roman vortrefflich.

Karagatsis komplexeres, spannenderes und moderner wirkendes Spätwerk "Das gelbe Dossier" ist ein Stück Weltliteratur, an dem wohl jeder Literaturfreund seine helle Freude haben wird. Nur, wer in aller erster Linie darauf aus ist, möglichst viel über die griechischen Handlungsorte und -zeiträume zu erfahren, mag etwas enttäuscht werden und ist beim "Oberst Ljapkin" besser aufgehoben. Denn so plastisch wie in diesem Frühwerk des Autors Landschaften und kleinstädtisches und dörfliches Leben Thessaliens, zeichnen sich in seinem ausgereiften Spätwerk "Das gelbe Dossier" dessen Handlungsort Athen mit seinen Bewohnern nicht ab, weil es großenteils in geschlossenen Räumen und einem geschlossenen Kreis von Protagonisten spielt.
Mich als Griechenlandfan begeistern an dem Roman Oberst Ljapkin vor allem seine stimmungsvolle Beschreibung der griechischen Handlungsorte und seine treffenden Studien der Gesellschaft und einzelner Charaktäre. Reizvoll finde ich auch die Auslotung der seelischen Auswirkungen des Heimatsverlusts und des Aufeinandertreffens zweiter Mentalitäten und Kulturen, die wir Westler leicht versucht sind, in einen osteuropäischen Topf zu schmeißen. Ein erbauliches und erhellendes Werk!

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